Simona Caldarelli erzählt über das Leben nach einem Hirntumor im Kindesalter. Über Rückschläge, ihre Kraftquellen und den Mut, immer wieder neu zu beginnen. Wenn Simona Caldarelli erzählt, sprühen die Worte – lebendig, direkt, ehrlich. Ihr Leben ein Balanceakt zwischen Stärke und Erschöpfung. Sie erzählt von Gefühlen und Herausforderungen, denen sie sich Tag für Tag stellt.
Als Simona Caldarelli 1992 die Diagnose Medulloblastom erhielt, war sie erst zwei Jahre alt. Laut Prognose lag ihre Überlebenschance bei zehn Prozent. Heute ist die Pflegfachfrau 35 und lebt zusammen mit ihrem Partner und ihrem Irish Terrier.
Kindheit im Ausnahmezustand
An ihre Erkrankung selbst hat Simona kaum Erinnerungen. Nur Ausschnitte, Gefühle, Bruchstücke und Erzählungen der Eltern. Eine Operation und zwei Jahre Chemotherapie. Nach der Operation war sie vollständig gelähmt und konnte weder sprechen noch laufen. Drei Monate nach der Operation kehrte Simona nach Hause zurück – ihre Mutter hatte entschieden, dass Simona statt sterilen Spitalfluren ihr Zuhause brauchte. In der ersten Nacht zurück bewegte sich Simona zum ersten Mal wieder. Ein zarter Anfang.
Das Sprechen musste sie von ihrem älteren Bruder neu lernen und mit zaghaften Schritten tastete sie sich allmählich zurück ins Leben. «Mein Bruder war mein Vorbild. Von ihm lernte ich, dass es immer irgendwie weitergehen kann.» Auch ihre Mutter habe nie aufgegeben und sei überzeugt gewesen, dass Simona die Krebserkrankung überleben würde. «Diese starke Haltung – das hat mich geprägt.»
Ich war immer ein bisschen anders – aber nie allein
Mit dem Überleben begann ein neues Leben – eines mit sichtbaren und unsichtbaren Narben. Simona hat eine halbseitige Gesichtslähmung und kann nur mit einem Auge richtig sehen. Ihre Koordination ist eingeschränkt und in der Schule fiel ihr vieles schwerer. Lernen dauert auch heute noch länger und Konzentration kostet Kraft. In ihren Teenagerjahren wurde sie gemobbt – wegen des Gesichts, wegen der Müdigkeit und wegen der Andersartigkeit.

«Ich kann viel! Aber es dauert doppelt so lange wie bei anderen.»
Die Erkenntnis, dass bei ihr vieles etwas länger dauert, tat weh und schmerzt auch heute noch manchmal. «Trotz allem bin ich eine fröhliche und lebendige Person geblieben und bekomme viel Rückhalt von meiner Familie und meinen engen Freunden. Sie tragen mich damals wie heute durch schwere Zeiten.»
Ein Leben voller Bewegung – trotz Grenzen
Die Spätfolgen ihrer Kinderkrebserkrankung, wie Typ-1-Diabetes, eine verminderte Sehfähigkeit oder kognitive Einschränkungen und zusätzlich ein geheilter Schilddrüsenkrebs im Erwachsenenalter, zehren an Simonas Reserven.
Lange Zeit war sie mit dem Rennvelo stundenlang unterwegs, fuhr Passstrassen, legte einmal während ihres Sprachaufenthalts in Australien 250 Kilometer an einem Tag zurück. Dann ein schwerer Velounfall, Oberkieferbruch, ausgeschlagene Zähne. «Ich möchte bald wieder Rennvelo fahren, aber momentan fehlt mir die Ausdauer. Wenn man nicht täglich trainiert, nimmt die Kondition ab.»

«Ich bin eine Macherin», sagt Simona. «Ich brauche Abwechslung, Bewegung – ich will etwas bewirken.»
Die unregelmässigen Arbeitszeiten mit Nachtschichten, die hohe Verantwortung und geringen Regenerationsphasen von ihrer früheren Stelle belasteten sie nach ihrem Umfall mehr und mehr. «Ich habe in den vergangenen Jahren oft nicht gespürt, wann es zu viel wird. Mein Körper sagt es mir – aber ich höre zu spät hin.» Auf den schweren Unfall folgte ein gesundheitlicher Zusammenbruch.
Simona erkannte, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie brauchte mehr Pausen, regelmässige Arbeitszeiten und hätte sich dafür beruflich umorientieren müssen. Lange lehnte sie eine IV-Rente ab – sie wollte arbeiten, funktionieren, leisten. Viel zu viel und viel zu lange. «Ich habe gehadert und mich dagegen gesträubt. Aber jetzt sehe ich es als Chance, dass ich reduziert arbeite. Es gibt mehr im Leben als nur zu leisten.» Simona bezieht heute eine 40-Prozent-IV-Rente.
Weiter machen. Vollgas voraus. «Ich bin eine Macherin. Ich brauche Abwechslung, Bewegung – ich will etwas bewirken.» Diese Power hat Simona jahrelang verinnerlicht, angetrieben und motiviert. Sie arbeitet seit zwei Jahren 60 Prozent in einem Spital für obdachlose und suchtkranke Menschen. «Ich liebe meine Arbeit – ich kann so viel zurückgeben.»
«Ich will weiterkommen – vielleicht langsamer, vielleicht anders. Aber immer weiter.»
Stillstehen will Simona trotzdem nicht, im Gegenteil. «Ich möchte nicht stehenbleiben, ich möchte weiterkommen, sowohl geistig als auch beruflich.» Simona möchte sich zur Hundetrainerin ausbilden und dann an der höheren Fachschule den Studiengang «HF-Aktivierung» absolvieren. Sie träumt davon, künftig zusammen mit ihrem Hund psychisch oder physisch erkrankte Menschen sowie ältere Personen mit tiergestützten Massnahmen zu begleiten.
Bevor ihr Traum Wirklichkeit werden kann, muss Simona aber einen IQ-Test bestehen, erst dann kann sie die Ausbildung beginnen. Aufgrund ihrer Vergangenheit erhält sie einen Nachteilsausgleich, das bedeutet in Simonas Fall, dass sie mehr Zeit für die Prüfung erhält. «Mit mehr Zeit kann ich es schaffen.» Zu wünschen ist es ihr.
Wenn Simona über ihre Geschichte spricht, tut sie das offen und ehrlich – ohne Selbstmitleid, aber mit viel Gefühl. Ihre Lebensfreude ist spürbar, auch wenn nicht jeder Tag leicht ist. «Ich bin oft nah am Wasser gebaut, ja. Aber ich bin auch stark. Ich will weiterkommen – vielleicht langsamer, vielleicht anders. Aber immer weiter.»