Normalität ist ein wertvolles Gut

Mit 15 Jahren erhielt Linda* die Diagnose akute lymphatische Leukämie (ALL). Heute lebt die Pädagogin in Deutschland und arbeitet im sozialen Bereich. Die Erinnerung an ihre Krankheit verblasst und ist dennoch allgegenwärtig.

Für Linda wirkt es ein wenig surreal, über ihre Krebserkrankung zu sprechen. «Es ist schon sehr lange her und ich führe ein ganz normales Leben wie viele andere.» Dennoch gibt es immer noch Alltagssituationen, in denen ihre Krankheitsgeschichte sie begleitet. Auch deshalb bedeutet ihr Normalität sehr viel.

Symbolbild

«Es ist schon sehr lange her und ich führe ein ganz normales Leben wie viele andere.»

Linda, Survivor

Alles steht Kopf

Vor 14 Jahren – fast ihr halbes Leben ist es her – wurde diese Normalität in ihren Grundfesten erschüttert.  Linda erkrankte schwer. Die Krankheit stellte ihren gewohnten Alltag auf den Kopf. Die ersten Anzeichen waren unscheinbar. Linda war über längere Zeit müde, hatte immer wieder kleinere Infekte. Nach einer schweren Grippe führte eine Blutuntersuchung schliesslich zur Diagnose, akute lymphatische Leukämie. Die Therapie nach standardisierten Protokoll dauerte zwei Jahre. 

Ein angepasstes Lernumfeld

Linda besuchte zu dieser Zeit das Gymnasium. Die Schulleitung ermöglichte es ihr, dass sie in der Klasse bleiben konnte. «Ich durfte während eines Semesters so viel fehlen, wie ich musste. Ich hatte keine Prüfungen, konnte kommen und gehen, wie es mein Gesundheitszustand und die vielen Termine im Spital zuliessen.». Wann immer es möglich war, besuchte sie dennoch den Unterricht.

Gut zu wissen

Auf Ebene der weiterführenden Schulen, wie der Sekundarstufe II, liegt die Führung und Organisation im Aufgabengebiet der Kantone. Während kantonale Bildungsbehörden die übergeordneten Richtlinien und Rahmenbedingungen festlegen, ist die konkrete Umsetzung oft von den einzelnen Schulen abhängig. Wie Sonderregelungen oder individuelle Massnahmen wie im Fall von Linda ausgearbeitet werden, ist also von Schule zu Schule verschieden. Der Rektor/die Rektorin oder die Schulleitung spielt dabei zusammen mit der Klassenlehrperson eine entscheidende Rolle.

Die Schule als sicherer Anker

Ein beständiges Schulumfeld vermag jene Stabilität zu vermitteln, die Kinder und Jugendliche dringend benötigen, wenn das Leben Kopf steht. So war die Schule auch für Linda in dieser Zeit sehr wichtig. «Mit dem Unterricht konnte ich mir ein bisschen Normalität in dieser Ausnahmesituation bewahren.»

Spätfolgen erhalten die Erinnerung

Die Spätfolgen der Krebstherapie erinnern Linda aber täglich an ihre Geschichte. Wohl durch die Chemotherapie hat sich eine Osteonekrose entwickelt. Das Absterben von Knochengewebe hat bei ihr dazu geführt, dass sie mit 18 Jahren zwei künstliche Hüftgelenke erhalten hat. «Ich habe auch heute noch Schmerzen, besonders in den Knien und Schultern. Manchmal mache ich mir deshalb Sorgen um meine Zukunft.»

«Mit dem Unterricht konnte ich mir ein bisschen Normalität in dieser Ausnahmesituation bewahren.»

Linda, Survivor

Eine psychologische Aufarbeitung

Auch seelische Narben bringen Lindas Normalität zwischendurch ins Wanken. Deswegen hat sie begonnen, sich intensiver mit den psychischen Auswirkungen ihrer Erkrankung zu beschäftigen. «Wir haben alle unseren Rucksack mit unterschiedlich schweren Steinen zu tragen. Nicht der gesamte Ballast stammt aus der Zeit der Krebserkrankung, aber eine ganze Menge.». Zwar hatte Linda damals im Spital und während der Nachsorge eine psychoonkologische Begleitung, doch vermag sie erst heute mit etwas Abstand, gewisse Empfindungen einzuordnen. 

Wichtige Ankerpunkte

Vor drei Jahren zog die ausgebildete Pädagogin nach Deutschland und arbeitet nun in der Heilerziehungspflege mit Menschen mit schweren Beeinträchtigungen. «Der direkte Kontakt mit den Menschen und die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten zu erhalten und zu fördern, empfinde ich als sehr sinnstiftend.». Ihr erfüllender Job, ihr Partner und das soziale Umfeld sorgen für die Stabilität, die sich Linda wünscht.

Ein selbstbestimmtes Leben

Linda will sich nicht über ihre Krankheitsgeschichte oder die Spätfolgen definieren lassen. «Beides sind Teile von mir, aber in meinem täglichen Sein nicht ständig präsent. Ich bin keine Heldin, die den Krebs besiegt hat. Ich bin eine normale Frau mit einem normalen Leben.»  

Normalität, sie bedeutet für Linda, einen gewohnten Alltag zu haben, der frei von aussergewöhnlichen Herausforderungen verläuft. Normalität, sie umschreibt ein stabiles Umfeld, in dem Linda ein selbstbestimmtes Leben führen kann. Normalität, sie ist für Linda ein Gut von unschätzbarem Wert. 


Linda* heisst in Wirklichkeit anders.