Wenn ein Kind schwer erkrankt, möchten Eltern Trost spenden, Halt geben und das Beste für ihr Kind tun. Wie wichtig sind dafür Werte und Regeln? Und welche Rolle spielen digitale Medien im Spitalalltag? Anna Graf, leitende Psychologin am Kinderspital Zürich, erklärt, warum bekannte Strukturen Stabilität geben und wie betroffene Familien einen guten Umgang mit Medien finden.
Eine schwere Krankheit stellt das Familienleben auf den Kopf. Viele Eltern fragen sich, ob sie ihrem Kind mehr Freiheiten geben oder an bestehenden Regeln festhalten sollen. Gleichzeitig sind Smartphones, Tablets und Social Media für viele junge Patient:innen eine wichtige Ablenkung und stellen auch eine Möglichkeit dar, soziale Kontakte zu pflegen. Doch wie viel Medienzeit ist gut? Und welche Grenzen braucht es? Anna Graf gibt Einblicke in ihre Erfahrungen aus dem Spitalalltag.
Wenn ein Kind schwer erkrankt, verändert sich das gesamte Familienleben. Warum sind bekannte Regeln und Werte gerade dann so wichtig?
In solchen Situationen gerät vieles aus den Fugen. Untersuchungen, Krankenhausaufenthalte und Behandlungen bestimmen den Alltag. Gerade dann können gewisse bekannte Regeln und Werte den Kindern und Jugendlichen Sicherheit geben. Sie signalisieren: Die Welt steht nicht komplett still. Natürlich bedeutet das nicht, dass alles unverändert bleiben muss, aber eine gewisse Konstanz gibt Halt.

«Weniger ist mehr. Es ist besser, sich auf einige zentrale Werte und Regeln zu konzentrieren, anstatt zu versuchen, alles gleichzeitig zu bewältigen.»
Eltern könnten in solchen Ausnahmesituationen das Bedürfnis verspüren, ihrem kranken Kind so viel wie möglich abzunehmen und zu erleichtern. Wie beurteilen Sie diese Haltung?
Es ist absolut verständlich, dass Eltern nichts mehr wollen, als das Leiden ihrer Kinder zu mildern und Trost zu spenden. Da ist es naheliegend, dass manche Eltern grosszügiger werden – etwa bei Medienzeit, Süssigkeiten oder anderen Wünschen. Aber eine komplette Auflösung von Regeln ist nicht hilfreich. Ein Kind braucht weiterhin Orientierung. Wichtig ist, weniger ist mehr. Es ist besser, sich auf einige zentrale Werte und Regeln zu konzentrieren, anstatt zu versuchen, alles gleichzeitig zu bewältigen.
Welche Regeln können aus Ihrer Sicht gelockert werden und welche sollten bestehen bleiben?
Das hängt stark von der Familie und den gelebten Werten ab. Aus meiner Sicht können Eltern bei manchen Dingen flexibler sein – etwa, wenn ein Kind keine Energie mehr hat, am Tisch zu essen und stattdessen auf dem Sofa etwas essen darf – da kann man sicher Ausnahmen machen. Gut ist, wenn diese verbalisiert werden. Andere Werte, wie ein respektvoller Umgang miteinander oder das Einhalten bestimmter Tagesstrukturen, sind aber essenziell. Es geht darum, eine Balance zu finden: genug Flexibilität, aber auch Verlässlichkeit.
Ein grosses Thema ist heute die Mediennutzung. Welche Rolle spielen digitale Medien für kranke Kinder?
Digitale Medien sind Fluch und Segen zugleich. Sie helfen Kindern und Jugendlichen, sich abzulenken, mit Freund:innen in Kontakt zu bleiben und eine gewisse Normalität zu bewahren. Besonders für Jugendliche ist es wertvoll, weiterhin an Gesprächen oder Online-Aktivitäten teilzunehmen – das gibt ihnen das Gefühl, nicht völlig aus dem sozialen Leben ausgeschlossen zu sein. Gleichzeitig sollte es klare Grenzen geben, damit Medien nicht zur Dauerbeschäftigung werden.
Gibt es Empfehlungen für den Umgang mit digitalen Medien bei erkrankten Kindern?
Eltern können sich an allgemeinen Empfehlungen zur Mediennutzung orientieren, beispielsweise von Jugend und Medien. In der Realität werden die Zeiten der Mediennutzung in einer Krankheitssituation, die lange andauert, nach oben angepasst. Es ist wichtig, dass Eltern und ihre Kinder gemeinsam Regeln festlegen: Wie lange darf das Tablet genutzt werden? Wann gibt es bildschirmfreie Zeiten? Und welche Inhalte sind sinnvoll? Besonders hilfreich ist es, verschiedene Medienformate abzuwechseln – also nicht stundenlang YouTube zu schauen, sondern auch mal Hörspiele zu hören oder digitale Medien zu nutzen, um kreativ tätig zu sein.
«Wichtig ist es, die Kinder und Jugendlichen darin zu unterstützen, direkte Begegnungen zu ermöglichen, soweit es die Gesundheit erlaubt.»
Eltern sind mit der Erkrankung ihres Kindes hoch belastet. Sind solche Grenzen in der Realität umsetzbar?
Im Spitalalltag unterstützen wir die Familien nach Bedarf dabei, über ihre Werthaltung zu sprechen und eine gemeinsame Lösung zu finden. Daheim im Alltag müssen sich die Eltern neben dem erkrankten Kind um allfällige Geschwister, den Job, Sozialversicherungen und die Familienorganisation kümmern. Und irgendwann kommen viele Eltern an den Punkt, wo die Energie fehlt, standhaft zu bleiben oder Werte konsequent zu leben. Eltern müssen deswegen aber kein schlechtes Gewissen haben. Wenn nach der akuten Behandlungsphase eine gewisse Normalität zurückkehrt, kann man auch wieder zurück zu gewohnten Werten finden.
Sollte man einem kranken Kind extra ein eigenes Smartphone oder Tablet anschaffen?
Die meisten erkrankten Kinder und Jugendliche können ihre sozialen Kontakte auch auf anderen Wegen aufrechterhalten. Viele von ihnen sind nicht dauernd isoliert, sondern können teilweise in die Schule gehen, Freunde sehen oder etwas unternehmen. Wichtig ist es, die Kinder und Jugendlichen darin zu unterstützen, direkte Begegnungen zu ermöglichen, soweit es die Gesundheit erlaubt. Wenn ein Kind wegen einer schweren Behandlung wenig soziale Kontakte hat, können digitale Medien unterstützend wirken – sollen aber nicht zum Ersatz für persönliche Beziehungen werden.
Viele Jugendliche suchen im Internet nach Informationen zu ihrer Krankheit. Wie beurteilen Sie das?
Das Internet kann eine wertvolle Informationsquelle sein, aber es gibt auch viele Fehlinformationen. Gerade Plattformen wie TikTok oder Foren müssen differenziert betrachtet werden, weil sie oft sehr individuelle oder extreme Krankheitsverläufe darstellen, die nicht auf die eigene Situation übertragbar sind. Hier ist es wichtig, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen: Was hast du gelesen? Trifft das auf dich zu? Wie fühlst du dich damit? Wir ermutigen Kinder und Jugendliche von Anfang an, sich bei Unsicherheiten oder Fragen an ihr medizinisches Team zu wenden.
Was möchten Sie betroffenen Eltern mit auf den Weg geben?
Eltern sollten sich nicht zusätzlich unter Druck setzen. Natürlich verändert eine Krankheit vieles – aber Kinder und Jugendliche sind unglaublich resilient. Sie können auch nach einer schweren Zeit wieder in eine Normalität zurückfinden. Wichtig ist, dass Eltern einen Rahmen schaffen, der sowohl Sicherheit als auch Flexibilität bietet. Werte und Regeln geben Orientierung – und das ist das Beste, was Eltern in dieser Situation tun können.
Gut zu wissen:
Hier finden Sie weiterführende Links mit Empfehlungen für Apps, Hörspiele und Mediennutzung:
Jugend und Medien
Fritz und Fränzi «Schluss mit nur Bespassung!»
SRF Hörspiele
Fritz und Fränzi - Podcasts und Hörspiele für Familien