Was heisst es, wenn ein krebskrankes Kind Teil einer Studie ist? Eine Frage, mit der betroffene Eltern meist unmittelbar nach der Diagnose konfrontiert werden und die oftmals Unsicherheiten auslöst.
Im Gespräch erklärt Heinz Hengartner, pädiatrischer Onkologe am Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen, was klinische Studien in der Kinderonkologie wirklich bedeuten – und warum sie nicht nur der Forschung dienen, sondern auch konkrete Vorteile für betroffene Kinder bringen.
Herr Hengartner, was bedeutet es, wenn onkologisch erkrankte Kinder und Jugendliche im Rahmen einer Studie behandelt werden?
In der pädiatrischen Onkologie werden die üblichen Forschungsstudien als Therapieoptimierungsstudien bezeichnet, die darauf abzielen, die Behandlung von Krebserkrankungen bei Kindern zu verbessern. Ziel dieser Studien ist es, die Wirksamkeit und Sicherheit von Therapien zu erhöhen, indem bestehende Behandlungsansätze optimiert werden. Dies geschieht zum Beispiel durch Verfeinerung von Dosierungen der Zytostatika, Vergleich von verschiedenen Behandlungsprotokollen, möglichen individuellen Therapieansätzen aufgrund genetischer Tumormerkmale oder auch durch Langzeitbeobachtungen. Der übergeordnete Zweck aller Studien ist, die Heilungschancen der Kinder und Jugendlichen mit Krebs zu erhöhen, die Nebenwirkungen der Behandlung zu verringern und eine möglichst hohe Lebensqualität nach der Behandlung zu gewährleisten.
Ist mein Kind ein Versuchskaninchen?
Nein, ganz und gar nicht. Jede Behandlung – auch im Rahmen einer Studie – basiert auf fundierten Erkenntnissen und ethisch streng geprüften Standards. In der Regel gibt es zwei oder mehrere sogenannte Behandlungsarme: die bewährte Standardtherapie und ein oder mehrere leicht angepasste Studienarme, welche neue Erkenntnisse zeigen sollen. Alle Kinder erhalten also eine Therapie, die als wirksam gilt.

«Wegen der engmaschigeren Überwachung, der Zweitbeurteilung und damit verbundenen erhöhten Qualität sowie dem Beitrag an künftige Therapien lege ich die Studienteilnahme den betroffenen Familien ans Herz.»
Wer entscheidet, in welchen Behandlungsarm mein Kind kommt?
Das erfolgt per Randomisierung, einem computerbasierten Verfahren, bei welchem die Studienteilnehmenden per Zufall entweder der bekannten Standardtherapiegruppe oder der Experimentalgruppe zugeteilt werden. Dieser Prozess ist in der Forschung international etabliert und stellt sicher, dass die Studienergebnisse objektiv und wissenschaftlich verwertbar sind. Es bedeutet aber nicht, dass der Computer über das Schicksal des Kindes entscheidet – alle Behandlungswege in der Studie entsprechen einem hohen medizinischen Standard.
Aber wie weiss ich als Elternteil, dass mein Kind wirklich die beste Behandlung bekommt?
Diese Sorge ist absolut verständlich. Wichtig ist, ob mit oder ohne Studienteilnahme, dass das Ärzteteam in jeder Gruppe bei Bedarf die Therapie ändern darf. Komplikationen, Nebenwirkungen oder besondere Situationen führen immer zu einer situationsgerechten Anpassung der Therapie. Auch haben die Studienteilnehmenden während der Therapie jederzeit das Recht, sich von der Studie zurückzuziehen.
Gibt es Vorteile für mein Kind, wenn es Teil einer Studie ist?
Ja, viele. Kinder und Jugendliche in Studien werden häufig engmaschiger überwacht, erhalten möglicherweise neue, innovative diagnostische Untersuchungen und Behandlungen nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und profitieren von qualitätssteigernden Zusatzbeurteilungen – zum Beispiel durch Expert:innen eines Referenzzentrums oder der nationalen oder internationalen Studienzentrale.
Natürlich ist die Teilnahme an einer medizinischen Studie nicht ohne Risiken. Es ist sicher wichtig, sich gründlich über die Studie zu informieren und mögliche Nebenwirkungen zu verstehen.
Muss mein Kind an der Studie teilnehmen?
Nein. Die Teilnahme ist immer freiwillig. Auch ohne Studienbeteiligung erhält Ihr Kind eine hochwertige Standardbehandlung. In der Schweiz ist die Versorgung sehr gut strukturiert – niemand wird benachteiligt, weil er oder sie nicht an einer Studie teilnimmt. Wegen der engmaschigeren Überwachung, der Zweitbeurteilung und damit verbundenen erhöhten Qualität sowie dem Beitrag an künftige Therapien lege ich die Studienteilnahme aber den betroffenen Familien ans Herz.
Und was ist mit neuen Medikamenten? Bekomme ich die nur, wenn mein Kind Teil der Studie ist?
Prinzipiell ja – nur bei Studienteilnahme haben die Patient:innen die Möglichkeit, ein neues Medikament zu bekommen, welches bezüglich Wirksamkeit und Sicherheit aber noch untersucht werden muss. Die meisten Therapieoptimierungsstudien in der Kinderonkologie prüfen jedoch keine gänzlich neuen Medikamente, sondern vergleichen etablierte Behandlungspläne mit kleinen Unterschieden. Wenn es um einen neuen Wirkstoff geht, findet diese Therapie meist in speziellen Phase-II-Studien – nur in den Kinderspitälern Zürich und Lausanne – und in der Regel ausschliesslich bei sehr schweren Fällen oder Rückfällen statt. In einer Phase-II-Studie wird ein Medikament zum ersten Mal an Patient:innen überprüft, die an jener Erkrankung leiden, für deren Behandlung der Wirkstoff entwickelt wird. Solche experimentellen Phase-II-Studien können eine letzte Hoffnung bieten.
Und was ist mit Off-Label-Medikamenten?
Off-Label bedeutet, dass ein Medikament ausserhalb seiner ursprünglichen Zulassungsindikation angewendet wird – das ist in der Kinderonkologie leider oft notwendig, weil viele Medikamente ursprünglich für Erwachsene entwickelt wurden. Diese Anwendung hat jedoch nichts mit einer Studie zu tun. Auch ausserhalb von Studien kann ein Ärzteteam Off-Label-Medikamente einsetzen, wenn es medizinisch sinnvoll ist.
Wie erfahre ich, ob mein Kind für eine Studie infrage kommt?
Das wird Ihnen das Behandlungsteam frühzeitig mitteilen – meistens direkt nach der Diagnosestellung. Es gibt jedoch nicht immer für jede Krebserkrankung eine offene Studie. Die grosse Herausforderung ist, diese komplexen Informationen in einer sehr belastenden Situation behutsam zu vermitteln. Nehmen Sie sich Zeit, fragen Sie nach und lassen Sie sich genau erklären, worum es bei der Studie geht.