Nadiya Palamar weiss aus eigener Erfahrung, was eine Krebserkrankung beim eigenen Kind bedeutet. Im Interview erzählt sie, was ihr während der langen Zeit der Behandlung geholfen hat.
Nadiya Palamars Sohn Dmytro erkrankte im Alter von 16 Jahren an Leukämie. Die einfühlsame Betreuung im Spital, die Unterstützung aus dem schulischen Umfeld, ein wenig Kreativität und der feste Glaube, dass es gut kommt, hat ihr während 730 Tagen Behandlung viel Kraft gegeben.
Was waren Ihre ersten Gedanken und Gefühle nach der Diagnose «Leukämie» bei Ihrem Sohn?
Zuerst Verleugnung – es musste ein Irrtum sein. Die Situation war nicht greifbar. Dann die drängenden Fragen: Ist die Leukämie heilbar? Wie lange dauert die Therapie? Und übernimmt die Versicherung die Kosten?
Dann hatte ich das Bedürfnis, meinen Sohn fest in den Arm zu nehmen, ihm zu sagen, dass alles gut wird – und gleichzeitig wollte ich mich selbst davon überzeugen. Aber der Schock wich schnell der Notwendigkeit, Kraft zu sammeln, um meinem Mann in der Ukraine die Nachricht zu überbringen. Und schliesslich brachte mich das Bewusstsein, dass das Krankenhaus für lange Zeit unser Zuhause sein würde, ins Handeln. Der Schock wich dem Entschluss: Wir müssen nach vorne schauen und weitergehen.

«Je früher es gelingt, die Situation anzunehmen, desto schneller können betroffene Eltern handeln und alle Kräfte auf die Genesung des Kindes richten.»
Was mussten Sie organisieren?
Nach der Diagnose drehten sich meine Gedanken um das «Warum?» , doch ich erkannte schnell, dass ich Lösungen finden musste. Ich musste Dinge packen und alles für unseren jüngeren Sohn organisieren, der zu Hause blieb. Schule, Betreuung, Therapieablauf – all das musste geregelt werden. Alleine, ohne Familie vor Ort, war ich gezwungen, mich schnell an die neue Realität anzupassen. Jeder Tag brachte neue Herausforderungen – und ich lernte, nicht von Angst gelähmt zu werden.
Wie können betroffene Eltern nach dem Schock nach Ihrer persönlichen Erfahrung wieder handlungsfähig werden?
Rückblickend erachte ich es als enorm wichtig, sich nicht zu lange mit der Frage nach dem «Warum?» aufzuhalten, sondern schnell die Situation zu akzeptieren. Aus meiner eigenen Erfahrung und aus Gesprächen mit anderen Müttern dauerte diese Übergangszeit etwa zwei Wochen. Je früher es gelingt, die Situation anzunehmen, desto schneller können betroffene Eltern handeln und alle Kräfte auf die Genesung des Kindes richten. Ich finde es ist wichtig, sich auf das Positive zu konzentrieren und die eigene Denkweise zu verändern. Die Diagnose zu erhalten, ist auch der erste Schritt zur Heilung. Die heutigen Behandlungsmethoden sind viel besser und effektiver als noch vor einigen Jahren und bieten deutlich höhere Heilungschancen.
Neben den organisatorischen Herausforderungen wurden Sie auch von der Angst um Ihren Sohn überwältigt. Wie sind Sie mit der psychischen Belastung umgegangen?
Die ersten Wochen waren voller Angst und Verzweiflung. Ich weinte oft im Auto, bevor ich nach Hause ging – dort musste ich für meinen jüngeren Sohn stark sein. Mein Mann unterstützte unseren kranken Sohn aus der Ferne, sprach mit ihm, lenkte ihn ab, erzählte Geschichten, brachte ihn zum Lachen – er tat alles, damit unser Dmytro keine Zeit zum Grübeln hatte.
Sie haben ein eigenes System zur Organisation der Therapie entwickelt – wie sah das aus?
Nach einiger Zeit konnten wir die Behandlung zu Hause fortsetzen. Das medizinische Team war sehr einfühlsam, beantwortete all meine Fragen und erklärte den Ablauf. Es war beruhigend zu wissen, dass wir jederzeit ins Krankenhaus zurückkehren und Hilfe bekommen konnten. Gleichzeitig stand ich vor einer neuen Herausforderung: eine Vielzahl an Medikamenten, die exakt nach Plan eingenommen werden mussten. Jeder Fehler hätte ernsthafte Folgen haben können.
So entwickelte ich ein System, das mir nicht nur organisatorisch, sondern auch emotional half. Zunächst begann ich mit einem einfachen Notizbuch und fuhr dann mit einer übersichtlichen Excel-Tabelle fort. Diese beinhaltete:
- den detaillierten Medikamentenplan mit der Möglichkeit, jede Dosis abzuhaken
- wichtige Behandlungsschritte, Operationen und Therapien, Beobachtungen zu Nebenwirkungen, um sie mit den Ärzt:innen zu besprechen
- Terminplanung meines Nachdiplomstudiums sowie der Behandlungstermine meines Sohnes
- Koordination von Zeitfenstern, in denen ich Unterstützung von Freunden für die Betreuung meines jüngeren Sohnes benötigte
Dieses System gab mir ein Gefühl von Kontrolle, half Fehler zu vermeiden und ermöglichte es mir, unseren neuen Alltag in allen Lebensbereichen zu planen. Zudem liess mich diese Übersicht erkennen, dass wir Tag für Tag dem Ziel näherkamen.
Welche Form der Unterstützung war für Sie während der Therapiezeit am wertvollsten?
Eine grosse Stütze war das medizinische Team im Spital. Ihre Professionalität, ihr Mitgefühl und ihre Menschlichkeit war von unschätzbarem Wert und gab uns grosse Sicherheit und Vertrauen. Ebenso wichtig waren kleine Auszeiten, die Organisationen wie «Sternschnuppe» ermöglichten. Sie schenkten uns positive Emotionen, die uns halfen, das Leben ausserhalb der Krankenhauswände wieder zu spüren.
Doch am meisten half meinem Sohn sein Ziel: Er wollte das Gymnasium mit seinen Freunden abschliessen. Diese Motivation gab ihm die Stärke, weiterzukämpfen. Seine Schule unterstützte uns dabei sehr – die Schulleiterin besuchte uns früh und versicherte, dass er alles nachholen könne. Seine Klassenkamerad:innen folgten dem Beispiel der Direktorin und besuchten ihn häufig.
Als sehr kommunikativer Mensch schöpfte mein Sohn daraus positive Energie. Im Fall meines Sohnes hat es sehr geholfen, den Fokus nicht auf die Krankheit, sondern auf die Zukunft zu richten. Das gab ihm zusätzliche Kraft zum Gesundwerden.
«Suchen Sie bewusst nach positiven Momenten, sei es bei einem Spaziergang oder bei einem Besuch im Zoo. Bleiben Sie nicht allein. Solche Momente geben Kraft für jeden nächsten Schritt.»
Wie können betroffene Eltern nach der Diagnose neue Orientierung finden?
«Akzeptieren und handeln». Die Suche nach dem «Warum?» kostet wertvolle Zeit. Die heutige Medizin bietet hohe Heilungschancen. Lassen Sie sich nicht isolieren oder von einem Angstgefühl überwältigen. Suchen Sie bewusst nach positiven Momenten, sei es bei einem Spaziergang oder bei einem Besuch im Zoo. Bleiben Sie nicht allein. Sowohl das Kind als auch die ganze Familie brauchen emotionale Unterstützung, die Möglichkeit zu sprechen und abzuschalten. Solche Momente geben Kraft für jeden nächsten Schritt.
Und am wichtigsten: versuchen Sie positiv zu bleiben. Glauben Sie daran, dass noch viele glückliche Momente vor Ihrer Familie liegen. Der Weg ist lang und kräftezehrend – aber er ist zu schaffen. Heute liegen 730 Tage Behandlung hinter uns. Wir haben sowohl die Intensivtherapie als auch die Erhaltungstherapie abgeschlossen. Was einst unmöglich schien, ist heute Realität geworden.