Nicole ist eine Powerfrau. Aufgewachsen zwischen Weiden und Bergen lernte sie früh, sich von Hindernissen nicht aufhalten zu lassen. Stets weiterzumachen – eine Mentalität, die sie während ihrer Krebserkrankung gestärkte, die sie aber 25 Jahre später dazu aufforderte, es ruhiger angehen zu lassen.
Nicole wächst zusammen mit ihren drei Brüdern auf einem Bauernhof im Jura auf, umgeben von Bergen, Wiesen und Kühen. Sie hatte eine glückliche Kindheit, bis sie mit vier Jahren an Krebs erkrankte. «Ich war so klein, dass ich nur bruchstückhafte Erinnerungen habe», erzählt Nicole.
Diagnose Nierentumor
Viele Wochen musste Nicole im Spital verbringen. Wochen, in denen sie wahrnahm, wie besorgt ihre Familie war, aber in denen sie im Spitalumfeld auch ein neues Zuhause auf Zeit fand. «Ich habe die Aufmerksamkeit, die ich vom Spitalpersonal bekam, genossen. Sie alle, Ärzt:innen und Pflegende, haben mich sehr umsorgt.»
Nicole litt an einem grossen Nierentumor. Bevor dieser operiert werden konnte, musste sich das kleine Mädchen einer Chemotherapie und Bestrahlung unterziehen. Eine Niere wurde ihr infolge der Operation entfernt und die Hauptvene, mit der der Tumor bereits verwachsen war, mit einem Patch stabilisiert. Ein Patch kommt immer dann zum Einsatz, wenn eine Öffnung nicht (komplikationslos) durch eine einfache Naht verschlossen werden kann. «Es war eine grosse Sache. Ich war auf der Intensivstation und konnte lange nichts essen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie köstlich mein erstes Joghurt geschmeckt hat.»

«Für Menschen da sein, zuhören, einen Unterschied machen – das gibt mir etwas zurück.»
Immer vorwärts, immer weiter
Sie überlebt, kämpft und will nach vorne. «Ich habe mich nie als das ΄kranke Kind΄ gefühlt, denn ich wollte nicht bemitleidet werden», erinnert sich Nicole. Zuhause auf dem Hof bekam sie früh mit, sich von Hindernissen nicht aufhalten zu lassen. Ihre Eltern mussten hart arbeiten und die Kinder packten mit an. Nicole lernte rasch, stets weiterzumachen, noch mehr zu leisten – und dass ΄Aufgeben΄ keine Option ist. Eine Stärke, die ihr während ihrer Krankheit viel positive Energie und Kraft gab. Eine Eigenschaft, welche sie derart prägte, aber in eine Sackgasse manövrieren würde, mehr dazu später. Sie entwickelt sich zu einem leistungsorientierten Menschen, immer aufs Ganze, immer in Bewegung. Aber auch immer mit einem Lächeln im Gesicht und mit einem überaus fröhlichen Gemüt.
Ich habe nie gelernt, stehen zu bleiben
Aufgewachsen auf dem Bauernhof wollte Nicole von klein auf Tierärztin werden. Den dafür nötigen Numerus clausus bestand sie zunächst nicht, der Umweg über ein Biologiestudium fühlte sich fremd an. Als sie später den Numerus clausus doch noch schaffte, kam Corona – und mit der Pandemie der Online-Unterricht. «Ich bin ein praktischer Mensch. Stundenlang vor dem Bildschirm zu sitzen, war zermürbend. Hinzu kam, dass ich wegen des Studiums auf dem Hof nicht mehr helfen konnte, schliesslich auszog und versuchte, auf eigenen Beinen zu stehen. Ich musste mir bald eingestehen, so schaffe ich das nicht», erzählt Nicole.
Dann ein wegweisender Zufall: Als während der Pandemie im Spital helfende Hände gebraucht wurden, begann Nicole ein Praktikum. Die Arbeit zog sie in ihrem Bann: «Ich habe sofort gespürt: Das ist es. Für Menschen da sein, zuhören, einen Unterschied machen – das gibt mir etwas zurück. Ich hätte früher nie gedacht, dass ein Job einen solchen Einfluss auf einen Menschen haben kann.»
Nach dem kurzen Trudeln zog sich das gewohnte Muster weiter durch Nicoles Leben. Sie war eine «Powerfrau», wie sie selbst sagt. Leistete stets die «Extrameile», verlangte sich alles ab, immer zuverlässig, immer positiv. «Wenn die Leute meine Krankheitsgeschichte hören, sagen viele, wie stark ich gewesen sei. Das hat in mir lange Zeit das Gefühl geweckt, dass ich doch immer stark sein und ohne Pause weitermachen müsse», erzählt Nicole. Dabei fehlte ihr im Alltag vielmals die Kraft dafür.
«Ich musste zuerst lernen, mir selbst zuzuhören und zu reflektieren, wie es mir geht. Herausfinden, woher mein Druck kommt und wie ich damit umgehe.»
Zum Stillstehen gezwungen
«Ich verspürte eine unglaubliche Energie und gleichzeitig einen hohen Leistungsdruck in mir. Heute weiss ich, beides kam aus dem Wunsch heraus, nie wieder Schwäche zu zeigen», reflektiert Nicole. Ihr Bruder hat sie oft gewarnt, sie werde irgendwann zusammenbrechen, wenn sie so weitermache, und so kam es dann auch.
Vielfältige körperliche Spätfolgen, jahrelange Leistung am Limit und schliesslich eine schmerzhafte Trennung von ihrem damaligen Freund waren zu viel. «Ich musste eine Zeit lang stillstehen und herausfinden, was los war», erzählt sie. «Achtsamkeit war gar nicht mein Ding. Ich musste zuerst lernen, mir selbst zuzuhören und zu reflektieren, wie es mir geht. Herausfinden, woher mein Druck kommt und wie ich damit umgehe.»
Nachsorge und Spätfolgen
Nur eine Niere, ein geschwächtes Herz, erhöhtes Brustkrebsrisiko, eine belastete Lunge, ein Stent (ein medizinisches Implantat, das dazu dient, verengte oder verschlossene Blutgefässe offen zu halten) nach einer Thrombose: Die Nachsorge begleitet sie täglich. «Meine körperlichen Spätfolgen zwingen mich, meinen Lebensstil gesünder zu planen als Gleichaltrige. Ich muss meine Ernährung im Griff behalten, regelmässig Sport treiben, darf keinen bis sehr wenig Alkohol trinken. Da ich auch auf meine Blutfettwerte, also aufs Cholesterin, achten muss, esse ich fettarm, mit wenig Zucker, viel Gemüse und Obst», erzählt Nicole. Sie versucht alles richtig zu machen und fühlt sich dennoch manchmal verurteilt: «Wenn ich bei einem Kontrolltermin ein halbes Kilo mehr wiege, werde ich getadelt. Es ist anstrengend, sich immer rechtfertigen zu müssen.»
Fertilität – das stille Thema
Ein weiteres Thema, das lange unberührt blieb, ist die Frage nach der eigenen Fruchtbarkeit. «Ich wurde früh damit konfrontiert, dass ich keine Kinder bekommen kann. Das war ein medizinischer Fakt, den ich einfach hingenommen habe – ohne Raum für Trauer, ohne Begleitung.»
Erst Jahre später spürte Nicole, wie tief sie diese Thematik bewegt. Sie wünscht sich, dass das Thema Fertilität in der Nachsorge mehr Platz erhält – nicht nur faktisch, sondern auch emotional. «Man muss jungen Menschen die Chance geben, diese Nachricht zu verarbeiten – nicht erst Jahrzehnte später.» Zwar könnte Nicole ein Kind zeugen, doch die Schwangerschaft für sie und für das Ungeborene könnte lebensgefährlich sein. «Wegen einer Thrombose mit Gefässverschluss muss ich Blutverdünner nehmen. Zudem weiss niemand, wie mein geschwächtes Herz und die Niere die Anstrengung mitmachen würden. Ich wäre eine Hochrisikoschwangere mit Zusatzrisiko.»
Ein Blick zurück und einer nach vorne
Ihre körperlichen und seelischen Spätfolgen zwangen Nicole, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Nicole spricht heute offen darüber und baut achtsame Momente bewusst in ihren Alltag ein. «Ich habe gelernt, dass Nachsorge nicht nur bedeutet, regelmässig zu Kontrollterminen zu gehen. Es heisst, ehrlich hinzusehen: Wie geht es mir wirklich? Was verdränge ich? Wo bin ich nur noch am Funktionieren?»
Mit ihrem jetzigen Partner spricht sie viel darüber, was sie bewegt. Aber nicht nur mit ihm: 2023 stand Nicole auf der Bühne: Im Projekt Krebskaraoke sang sie mit anderen Betroffenen und erzählte ihre Geschichte. «Es tat gut, das Thema einfach mal auszuposaunen und zu lachen. Dabei wurde mir bewusst, dass ich den Krebs nie ganz losgelassen hatte. Ich dachte, ich hätte meinen Frieden gefunden. Doch es war immer noch da, unter der Oberfläche verborgen.»

«Ich habe gelernt, dass Nachsorge nicht nur bedeutet, regelmässig zu Kontrollterminen zu gehen. Es heisst, ehrlich hinzusehen: Wie geht es mir wirklich?»
Es geht auch langsamer
Vielen Survivors, denen Nicole begegnet, sind wie sie: stark, engagiert, voller Energie – aber manchmal auch zu sehr. «Ich erkenne mich oft wieder. Diese Art, durchs Leben zu rennen, sich nicht zu beschweren, immer zu funktionieren – ganz viele Survivors sind so. Unglaublich leistungsorientiert und von aussen betrachtet sehr stark», sagt Nicole. Sie selbst hat gelernt, wie wertvoll es ist, genau dort einzuhaken.
Ihre wichtigste Botschaft an andere Betroffene ist daher, dass sie rechtzeitig hinschauen und nicht erst, wenn der Körper streikt. «Ich will anderen Survivors sagen, dass sie langsamer machen, zweifeln, traurig sein, Fragen stellen dürfen und nicht verpflichtet sind, immer stark zu wirken.» Sie ergänzt: «Ich fühle mit, wenn andere durch schwere Phasen gehen – aber ich kann mich inzwischen auch abgrenzen. Ich darf auch für mich da sein.»
Nach einem schmerzhaften Stillstand begann für Nicole eine neue Art des Umgangs mit sich selbst. Sie hat vieles aufgearbeitet, aber der Prozess ist nicht vorbei. „Es gibt kein ‚Fertig‘. Es ist ein lebenslanges Lernen. Heute fühle ich mich echter, verbundener mit mir selbst.»