Den Kriegswirren in der Ukraine entkommen und sich hier ein neues Leben aufgebaut, erhält Dmytro Palamar mit 17 Jahren die Diagnose Leukämie. Dmytro erzählt von seinem Weg durch die Krankheit, über den Umgang mit körperlichen Veränderungen und davon, was ihm geholfen hat.
Dmytro hat bewegte Jahre hinter sich. Zusammen mit seiner Mutter musste er im Frühjahr 2022 aus der Ukraine flüchten, seinen Vater, seine Freunde und seinen Alltag zurücklassen. Der Teenager fand sich in seiner neuen Heimat in St. Gallen schnell zurecht. Er lernte Deutsch, integrierte sich blendend in der Schule und fand Freunde. Dmytro war aktiv, sportlich und unternehmenslustig.
Eine ungewollte Auszeit
Es wäre eine Wende wie im Bilderbuch gewesen, doch das Leben hatte andere Pläne für Dmytro: Ein Jahr nach seiner Ankunft in der Schweiz erhielt der Teenager die Diagnose Leukämie. Es folgte eine Zeit zwischen Angst, Hoffnung, Erschöpfung, aber auch kleinen Erfolgen.
«Mein Leben änderte sich schlagartig. Alles, was vorher wichtig war – Schule, Hobbies, Freunde – rückte plötzlich in den Hintergrund», erinnert sich Dmytro. Stattdessen ging es um Arztbesuche, Spitalaufenthalte und Chemotherapie. «Die ersten Wochen waren wie ein Schock», erzählt der junge Mann. «Natürlich habe ich von Menschen mit einer Krebserkrankung gehört, aber das Thema war für mich weit weg. Ich konnte nicht fassen, dass es mich trifft.» Seine Mutter Nadiya schildert ähnliche Gefühle: «Zuerst Verleugnung – es musste ein Irrtum sein, denn die Situation war nicht greifbar.»
«Alles, was vorher wichtig war, Schule, Hobbies, Freunde, rückte plötzlich in den Hintergrund.»
Mitreden dürfen – auch als Jugendlicher
Im Behandlungsverlauf wurde Dmytro, genauso wie seine Mutter, die stets an seiner Seite war, aktiv einbezogen. «Mir wurde alles direkt erklärt – was als Nächstes auf mich zukommt, welche Nebenwirkungen möglich sind. Es gab nicht viele Alternativen, aber ich wusste immer, was gerade mit mir passiert.» Auch heikle Themen wie Spätfolgen oder Fruchtbarkeit wurden nicht ausgespart. «Bevor die Chemo begann, wurden mögliche Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit mit mir besprochen und ich konnte Spermien einfrieren lassen», erzählt Dmytro. Krebsbehandlungen können zu einem Verlust oder einer Beeinträchtigung der Fruchtbarkeit führen. «Bei mir ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass nichts passiert ist. Dennoch bin ich sehr froh, dass die Ärzt:innen mit mir offen darüber gesprochen hatten und wir entsprechende Massnahmen treffen konnten», erzählt Dmytro.
Eine Achterbahn der Gefühle
Die ersten Wochen der Krebsbehandlung waren geprägt von vielen kleinen mutmachenden Fortschritten. Doch die Therapie forderte ihren Tribut – körperlich und psychisch. Besonders schwer war für Dmytro die Zeit, in der er sich fast schon gesund fühlte, aber weiterhin Chemotherapie bekam. «Du bist auf dem Weg der Besserung, benötigst aber weiterhin eine starke Therapie mit all ihren Nebenwirkungen. Es war notwendig, aber es fühlte sich ein wenig an wie vergiftet zu werden. Das war hart», blickt Dmytro zurück.
Zweifel, Erschöpfung, Enttäuschung – das gehörte alles dazu. «Zum Glück waren es nicht allzu viele solcher intensiven Phasen.» Doch es gab Momente, in denen Dmytro dachte: «Ich kann nicht mehr.» Dann gaben ihm vor allem seine Familie und seine Freunde grossen Halt. Seine Mutter war eine ständige Stütze. «Sie hat mich aus diesen Tiefs herausgezogen, immer und immer wieder», sagt er.
Körperliche Veränderungen
Während der Therapie verlor Dmytro seine Haare und sein Gesicht war aufgedunsen. «Ich mochte mich im Spiegel nicht mehr ansehen und versuchte, es zu vermeiden.» Doch Dmytro wusste, dass in seinem Fall viele körperliche Veränderungen nur temporär waren. Die Ärzt:innen sagten ihm: «Deine Haare werden wieder wachsen und du wirst dein Aussehen zurückbekommen.» Seine Freunde und Familie unterstützten Dmytro in dieser Zeit, ohne ihn auf seine Veränderung anzusprechen. «Sie haben die Veränderung gesehen, aber diese nie kommentiert. Das half mir, mich nicht noch schlechter zu fühlen.»
Ins Handeln kommen
Die Familie Palamar fand schnell aus ihrem Schockzustand heraus. Dmytros Mutter erzählt: «Nach der Diagnose drehten sich meine Gedanken um das ‘Warum’, doch ich erkannte schnell, ich muss Lösungen finden. Wir müssen nach vorne schauen und weitergehen.» Die Einstellung seiner Mutter übertrug sich auf Dmytro. «Ich erinnere mich noch gut, wie erleichtert ich war, als die Ärzt:innen sagten, dass meine Leukämie gut behandelbar sei. Das gab mir Aufwind und ich versuchte, möglichst aktiv zu bleiben. Ich hatte das Gefühl, dadurch ein wenig die Kontrolle zurückzugewinnen», erzählt Dmytro.
«Ich habe sehr viel Unterstützung von meiner Schule erhalten. Lehrer:innen und Mitschüler:innen waren enorm verständnisvoll und ermutigend.»
Bewegung, Natur und kleine Ruheinseln
Was Dmytro neben den Menschen in seinem Umfeld besonderen Auftrieb gab, war Bewegung. «Sport war entscheidend für mein Wohlbefinden. Selbst wenn es nur ein kurzer Spaziergang war. Kleine Ausflüge ins Grüne, einen halben Tag raus aus der Stadt, weg vom Spital. Das gab mir neue Energie.» Diese Mini-Reisen waren für Dmytro wie kurze Atempausen in einer Zeit voller Anspannung.
Das schulische Umfeld als wichtige Stütze
Dmytro erinnert sich: «Ich habe sehr viel Unterstützung von meiner Schule erhalten – Lehrer:innen, Mitschüler:innen und das ganze Umfeld waren enorm verständnisvoll und ermutigend. Diese Rückendeckung war für mich in dieser schweren Zeit unglaublich wichtig.» Er weiss aber auch, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist. «Ich habe mit anderen gesprochen, die in einer ähnlichen Situation waren, aber wenig Support durch ihre Schule erfahren haben. Das hat mir noch deutlicher gemacht, wie besonders wertvoll mein schulisches Umfeld war.» Dmytro hofft, dass Schulen erkennen, welchen Unterschied ihre Haltung machen kann: «Ein unterstützendes Umfeld kann eine enorme Wirkung haben – das sollte man nicht unterschätzen.»
Begegnungen mit anderen Betroffenen
Während der Behandlung hatte Dmytro kaum Kontakt zu anderen Jugendlichen mit Krebs. Die meisten Patient:innen auf seiner Station waren kleine Kinder. Nur einmal begegnete er einem betroffenen Jungen, ebenfalls aus der Ukraine. «Es war ein spontanes Gespräch mitten in der Nacht auf der Station. Der Austausch hat mir gutgetan, auch wenn es bei der einmaligen Begegnung geblieben ist», erinnert sich Dmytro.
Erst nach der Behandlung, bei einem Event der Organisation Léman Hope, fand Dmytro weitere Verbindungen zu anderen betroffenen jungen Menschen. «Das gemeinsame Erlebnis und die Gespräche waren unglaublich wertvoll. Endlich konnte ich mit Gleichaltrigen sprechen, die etwas Ähnliches erlebt haben.»
«Dein Leben kann wieder wie früher werden, zwar nicht sofort und nicht ohne Anstrengung, aber es ist möglich.»
Mut machen – ohne Illusionen
Dmytro ist sich bewusst: Nicht alle Verläufe sind wie seiner. «Bei anderen Krebsarten können körperliche oder psychische Folgen bleiben, respektive sich entwickeln», weiss er. «Aber bei Leukämie gibt es heutzutage gute Chancen.» Dmytro erzählt von einem Mädchen, das er kennengelernt hat. Sie war ebenfalls an Leukämie erkrankt und hatte einen schweren Verlauf mit Komplikationen. «Sie musste eine Stammzelltransplantation machen. Mittlerweile hat sie sich erholt, es geht ihr gut und sie führt ein ganz ‘normales’ Leben.»
Anderen Betroffenen möchte Dmytro Mut machen: «Dein Leben kann wieder wie früher werden, zwar nicht sofort und nicht ohne Anstrengung, aber es ist möglich.» Gerade Jugendlichen möchte er Folgendes mit auf den Weg geben: «Deine Haare werden in vielen Fällen nachwachsen, deine Muskeln kommen zurück, wenn du wieder Kraft hast, dich zu bewegen. Du bist nicht für immer in diesem Zustand. Dein Leben kommt zurück.»
Eine Zukunft voller Pläne
Auch wenn die Kraft, das Aussehen und das alte Leben zurückgekehrt sind, eines nimmt Dmytro aus seiner Krankheitserfahrung mit: «Ich habe gelernt, Geduld mit mir selbst zu haben und wie viel Kraft ich aus kleinen Dingen ziehen kann.»
Heute treibt Dmytro wieder regelmässig Sport, er reist, trifft Freunde und studiert an der Universität St. Gallen Wirtschaft. Sein grosses Ziel: einen Master-Abschluss in Business Administration (MBA) zu absolvieren.