Nur wer sehr genau hinsieht, erkennt ein leichtes Hinken am selbstbewussten Gang der jungen Frau, die den steilen Pfad erklimmt. Kaum jemand könnte erahnen, dass eines der Beine, die sie auf den Gipfel trägt, eine Prothese ist. Das ist die Geschichte von Sarah, die mit neun Jahren an Knochenkrebs erkrankte. Das ist die Geschichte von Sarah, die trotz körperlicher Hürden, Berge bezwingt.
Vor rund 20 Jahren geriet das Leben der damals neunjährigen Sarah aus den Fugen. Sarah erhält die Diagnose Osteosarkom, ein seltener und aggressiver Knochenkrebs im Oberschenkel.
Doch Sarahs Geschichte ist kein Bericht über eine Krankheit, sondern vielmehr ein inspirierendes Zeugnis, wie Entschlossenheit, Sport und Freude das Leben trotz schwieriger Umstände prägen können.
Eine wegweisende Operation
Nach einer intensiven Chemotherapie musste Sarahs Bein amputiert werden und sie erhielt eine sogenannte Umkehrplastik. Dabei wurde das Knie mit dem Oberschenkel unterhalb des Hüftgelenks entfernt und der gesunde Unterschenkel inkl. dem Fuss mit einer Platte am Oberschenkel befestigt. Der grosse Vorteil dabei ist, dass der Stumpf voll belastbar ist und, dass das Sprunggelenk als Kniegelenk verwendet wird, wodurch die Prothese viel natürlicher benutzt werden kann. Dass sie mit dieser Operation eine bemerkenswerte Mobilität zurückgewinnen und für andere Betroffene zu einer wichtigen Stütze werden wird, konnte Sarah damals noch nicht ahnen.

«Meine Freunde und meine Klassenlehrperson haben mich sehr unterstützt. Das war enorm wichtig.»
Schritt für Schritt zurück ins Leben
«Für mich war von Anfang an klar, dass ich so schnell wie möglich wieder mit meinen Freunden herumtoben wollte.». Doch die erste Zeit nach der Chemotherapie und der Operation war geprägt von körperlichen und mentalen Herausforderungen. «Bis ich wieder richtig laufen konnte, ging ich anfangs mit einer Art Kinderwagen zur Schule – deswegen gab es einige blöde Sprüche.». In den folgenden Monaten lernte Sarah wieder zu laufen und konnte schon bald wieder zu ihrem früheren Hobby, dem Reiten, zurückkehren. Zwei Jahre nach der Operation hatte sie genügend Kraft aufgebaut, um Fahrrad zu fahren und langsam mit dem Wandern zu beginnen. Aus der regelmässigen Bewegung und dem Sport schöpfte sie viel Energie – körperlich wie geistig.
Paralympische Träume
Als junge Erwachsene entdeckte Sarah eine neue Passion. «Ich trainierte dreimal pro Woche Leichtathletik auf Leistungsniveau, zudem ging ich regelmässig wandern und reiten. Ich war richtig fit.». Sarah war in der Leichtathletik derart ambitioniert, dass ein grosser Traum hätte Realität werden können – die Teilnahme an den paralympischen Spielen 2024 in Paris. Hätte. Vielleicht. Ein Virus mit grossen Auswirkungen zerstörte die Träume abrupt; Corona. «Was hätte sein können? Ich weiss es nicht.».
Eine erneuter Schicksalsschlag
Corona versetzte Sarahs sportliches und soziales Leben in einen Stillstand. Ihre Lunge ist schwach und anfällig für Infekte. «Wahrscheinlich ist ein Atemwegsinfekt während meiner Krebserkrankung die Ursache dafür. Jedenfalls kämpfte ich in den Jahren danach immer wieder mit schwerer Bronchitis.». Von einem Tag auf den anderen musste sie den Sport aufgeben und alle sozialen Kontakte einschränken, denn an Corona zu erkranken, hätte für Sarah sehr gefährlich werden können. In ihrer ersten Wohnung, in die sie erst kürzlich eingezogen war, fühlte sie sich isoliert. «Ich bin mental in ein Loch gefallen. Nicht nur konnte ich keinen Sport mehr treiben, sondern musste ich mich zu Hause schützen.»

«Ich gebe nicht klein bei, wenn etwas schiefläuft. Manchmal muss man neue Wege suchen, ja. Aber, es gibt Wege.»
Neue Wege erklimmen
Doch auch davon liess sich die junge Frau nicht unterkriegen. Wichtige Stützen waren ihre Familie, das Pferd und ihre Arbeit. «Die Geburt meines Neffen während der Pandemie war für mich eine grosse Antriebskraft. Zudem hat mir das Pferd viel Konstanz gegeben. Ein Pferd kann man schliesslich nicht wie ein Fahrrad stehen lassen, es braucht Pflege und Bewegung – trotz der Risiken. Und schlussendlich fokussierte ich mich auf meine Arbeit, in der ich aufgehen konnte.» Nach Monaten der Isolation kam Sarahs Unabhängigkeit und ihre Lebensfreude langsam wieder zurück. Zwar waren die Träume von Paris geplatzt, doch blieb ihre Leidenschaft für den Sport, die Berge und das Reiten.
Andere Betroffene inspirieren
Wo sie früher auf der Tartanbahn anzutreffen war, radelt sie heute mit ihrem Bike durch die Natur, paddelt mit ihrer Familie auf dem Stand-up-Paddle-Board um die Wette oder hilft anderen Betroffenen. «Während der Krebserkrankung und den Monaten danach hat mich meine Familie sehr gestärkt. Freunde und Nachbarn haben uns unterstützt, wo sie konnten. Dieser Zusammenhalt hat mich geprägt» Mit ihrer positiven Einstellung und wertvollen Tipps motiviert sie Betroffene, sich auszutauschen und neue Wege zu finden, «Zum Beispiel zeige ich einer Person, wie sie ihr Fahrrad umbauen kann, damit sie trotz Umkehrprothese wieder richtig gut Velo fahren kann.».
Der Krebs ist nicht, was mich definiert
Obwohl die Folgen durch die Beinamputation ein Leben lang sichtbar sind, ist die Krebserkrankung für Sarah ein weitgehend abgeschlossenes Kapitel. «Manchmal, sehr selten, kommt es vor, dass ich bei der Planung von Projekten beim Thema hindernisfreies Bauen denke ‘Das betrifft mich ja auch persönlich. ’ Ich nehme meine Prothese im Alltag aber kaum als körperliche Behinderung wahr.» Die erfahrene Bau- und Projektleiterin, die lebensfrohe junge Frau, das sportliche Energiebündel weiss, dass sie trotz – oder mit – ihrer Prothese die meisten Hindernisse überwinden kann.